Offene Briefe

Offener Brief zur Leipziger Buchmesse 2015: Kultur zur Ablenkung von völkerrechtlichen Verbrechen

Sehr geehrte Verlegerschaft und Mitarbeitende, sehr geehrte Besucherinnen und Besucher der Buchmesse,

in diesem Jahr – 2015 – pflegen die alte Bundesrepublik Deutschland bzw. das wiedervereinigte Deutschland und Israel seit 50 Jahren diplomatische Beziehungen, Anlass für die Regierungen beider Staaten und zahlreiche Institutionen, vor allem kultureller Art, ihre besonders enge Kooperation zu zelebrieren. Dies geschieht unter anderem auf der diesjährigen Leipziger Buchmesse. Mit ihrem Messeschwerpunkt „1965 bis 2015. Deutschland – Israel“ würdigt die Leipziger Buchmesse 2015 das einzigartige Verhältnis beider Staaten.

Zu dem „einzigartige(n) Verhältnis beider Staaten“ schreiben die Veranstaltenden: Zwanzig Jahre nach dem Ende der NS-Diktatur und dem Völkermord an etwa sechs Millionen Juden und siebzehn Jahre nach der Staatsgründung Israels war die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen am 12. Mai 1965 eine historische Leistung.

Grund genug also, auf diversen deutsch-israelischen Veranstaltungen in frohgemutem Ton zu feiern und insgesamt das Bild zu vermitteln: Wir sind uns einig und bester Stimmung und versichern uns gegenseitig und auf Augenhöhe unserer kulturellen Nähe.

Nicht jedem gelingt eine so unbeschwerte Sicht auf die besonderen deutsch-israelischen Beziehungen. So äußerte der US-amerikanische Journalist Max Blumenthal bei seinem Deutschlandbesuch im vergangenen Jahr: Laut dem allgemein gültigen deutschen Narrativ stellt Deutschland wegen des Holocaust Israel Dolphin-U-Boote zur Verfügung, die geeignet sind, Nuklear-Raketen abzuschießen. Und wegen des Holocaust überlässt Deutschland Israel verbilligt Korvetten, von denen aus Fischer im Gazastreifen angegriffen werden, Menschen, die gezwungen sind, in einem Ghetto zu leben und auf dem zweitdichtest bevölkerten Flecken Erde, eingeschlossen von Mauern mit Geschütztürmen, auf denen ferngesteuerte Maschinengewehre installiert sind – alles wegen des Holocaust. Wie das die Millionen ehren soll, die zu Asche wurden, ist mir vollkommen schleierhaft.[1]

Zentrales Terrain der deutsch-israelischen Beziehungen war vor wie nach 1965 und ist bis heute weniger die Verantwortung gegenüber den Opfern und Überlebenden des Holocaust, als vielmehr eine für beide Staaten vorteilhafte Rüstungszusammenarbeit.[2] Und es verwundert nicht, dass Deutschlands Geburtstagsgeschenk aus einer erneuten Finanzhilfe für Israels Marine besteht. Vier neue Kriegsschiffe werden bezuschusst.[3]

Angesichts solcher ernüchternden Hintergründe liegt es nahe, sich der Sphäre von Kunst, Kultur und Wissenschaft zuzuwenden, die vermeintlich nichts mit Politik zu tun hat. Die israelische Regierung rief 2006 die ‘Brand Israel’-Iinitiative [4] ins Leben mit dem Ziel, das Image Israels international aufzuwerten, und von den massiven Menschenrechtsverletzungen und der Missachtung internationalen Rechts durch Israel abzulenken. Dies soll durch Auftritte von Kulturschaffenden, durch die Präsentation israelischer Kunst und Kultur im Ausland, erreicht werden. Die Kampagne ist eine Reaktion der israelischen Regierung auf die weltweit zunehmenden Proteste gegen die unübersehbaren Völkerrechtsverletzungen, wie sie gerade wieder im vergangenen Sommer bei den Angriffen auf die belagerte Zivilbevölkerung Gazas einen drastischen Höhepunkt erreichten. Dem, was Millionen Menschen weltweit wahrnehmen, soll mittels vermeintlich unpolitischer „Kultur“ das Bild eines normalen demokratischen Landes entgegengesetzt werden.

2009 verkündete der stellvertretende Leiter der Abteilung Kultur im israelischen Außenministerium: Wir werden bekannte Romanciers und Autoren sowie Theaterkompanien und Ausstellungen ins Ausland schicken. Auf diese Weise zeigt man das schöne Gesicht Israels und man assoziiert uns nicht mehr ausschließlich mit Krieg.[5] Zu diesem Zeitpunkt hatte Israel den Gazastreifen mit Phosphorbomben und anderen international geächteten Waffen verwüstet und wehrte sich hartnäckig gegen die Untersuchung der Kriegsverbrechen durch eine UN-Kommission.

Der israelische Autor Yitzhak Laor schilderte 2008 in einem Artikel in der israelischen Tageszeitung Haaretz, wie Israel Künstler in das staatliche Propaganda-Programm einbindet. Israelische Künstler und Kulturschaffende, deren Auslandsauftritte vom Staat gefördert werden, unterschreiben einen Vertrag, in dem sie als Dienstleister bezeichnet werden und dem Außenministerium versichern, die politischen (sic!) Interessen des Staates Israel durch Kultur und Kunst zu fördern, wozu auch ein positives Image von Israel gehört. [6]

Wir erklären uns als Berlin Academic Boycott(BAB) und BDS Berlin mit dem Neuen ISP-Verlag und dem israelischen Autor Shir Hever solidarisch, die der diesjährigen Leipziger Buchmesse aus Protest gegen den Schwerpunkt 1965 bis 2015 Deutschland – Israel fernbleiben.[7] Denn dieser wird mit staatlicher israelischer Unterstützung (die Botschaft Israels in Berlin ist Mitveranstalterin) im Rahmen der geschilderten Kampagne zur Ablenkung von systematischen, massiven und kontinuierlichen Völkerrechtsverbrechen durchgeführt. Selbstverständlich unterscheiden wir einen Staat und seine Bürger_innen und wissen uns verbunden mit israelischen Kunstschaffenden, Intellektuellen und Aktivist_innen wie Shir Hever und vielen anderen, die für die Rechte der Palästinenser_innen eintreten.

Die Freiheit des künstlerischen Ausdrucks und der Presse ist ein wertvolles Gut, das jedoch auch verbunden ist mit einer Verantwortung. Keine literarische oder sonstige künstlerische Äußerung findet im luftleeren Raum statt. Ganz sicher ist dies nicht der Fall, wenn sich Autorinnen und Autoren dazu hergeben, im Rahmen einer staatlich geförderten Veranstaltung aufzutreten und der betreffende Staat ausdrücklich solche Auftritte im Sinne der Image-Pflege und als Ablenkungsmanöver nutzt, während er sich kontinuierlich und in vielfältiger Weise an einer ihm ausgelieferten Zivilbevölkerung vergeht.

Wir hoffen, dass wir Sie – so wie zahlreiche Kunstschaffende und Intellektuelle weltweit – zu denen zählen dürfen, die angesichts der oben skizzierten Sachverhalte die internationale Kampagne zum kulturellen Boykott staatlich geförderter israelischer Kunst und Kultur unterstützen. Damit wären Sie in bester Gesellschaft u.a. mit Peter Brook, Ken Loach, Judith Butler, Jean-Luc Godard, Susan Sarandon, Meg Ryan, Cassandra Wilson, Annie Lennox, Cat Power, Lhasa, Stevie Wonder, Salif Keita, Gilles Vigneault, Nigel Kennedy, Roger Waters, Peter Gabriel, Elvis Costello, Carlos Santana, Gil Scott-Heron, Massive Attack, Angela Davis, Naomi Klein, Eduardo Galeano.

Falls es Ihnen nicht möglich ist, Ihre Teilnahme an der Messe oder Ihren Besuch abzusagen, bleibt die Möglichkeit, gegenüber der Messeleitung Ihr Unbehagen zum Ausdruck zu bringen, die Schwerpunkt-Veranstaltungen zu boykottieren oder in einer Form, die Ihnen angemessen erscheint, gegen den diesjährigen Schwerpunkt zu protestieren. Sie sind im Übrigen herzlich eingeladen, sich an uns zu wenden, um weitere Informationen über die Kampagne zu bekommen oder sie zu unterstützen.

Berlin, 6. März 2015

Berlin Academic Boycott                                                             BDS Berlin

                                                                        bacademic.b@googlemail.com                                         kontakt@bdsberlin.org

Für Nachfragen stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung.

Verweise:

[1] http://www.sozonline.de/2014/12/die-gedanken-der-anderen/

[2] http://www.bits.de/public/bes-beziehungen.htm

[3] http://www.bits.de/public/articles/n_deutschl/nd201214.htm

[4]http://www.mfa.gov.il/mfa/pressroom/2006/pages/international%20brand%20israel%20seminar%20to%20be%20launched%20this%20week%20by%20the%20foreign%20ministry%2024-oct-2006.aspx

[5] http://www.nytimes.com/2009/03/19/world/middleeast/19israel.html?_r=4&hp&

[6] http://www.pacbi.org/etemplate.php?id=790&key=Yitzhak%20Laor

[7] http://www.neuerispverlag.de/aushang/Erklaerung_des_Neuer_ISP_Verlag_und_von_Shir_Hever.pdf

Weitere Hinweise zu den Guidelines des kulturellen Boykotts finden Sie unter www.pacbi.org