Offene Briefe

Offener Brief an Innensenator Andreas Geisel

Zu den Unterzeichner*innen eines offenen Briefes an den Berliner Innensenator Andreas Geisel gehört auch BDS Berlin. Anlaß war ein Interview, das der Senator der ZEIT-online gegeben hatte.


Andreas Geisel – Senator für Inneres und Sport

Klosterstraße 47 – 10179 Berlin

Berlin, 8. Oktober 2019

Sehr geehrter Herr Innensenator Geisel,

Ihr Interview vom 25.09.2019 in der Zeit-Online hat uns bewogen, Sie dringend an Artikel 1 des Grundgesetzes zu erinnern:

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Denn mit Befremden lesen wir Ihre von Ignoranz und Gedankenlosigkeit strotzenden Ausführungen, insbesondere bezüglich Antisemitismus.

Wir sind bestürzt, wenn es sich ausgerechnet der Innensenator der Stadt Berlin leistet, angesichts von gesellschaftlichen Entwicklungen, die eben diesen Artikel 1 in Frage stellen, so nachlässig zu reden. 

Eine bedrohlich erstarkende Rechte, zunehmender Antisemitismus und eine sich seit Jahren rasant verschärfende Hetze und Gewalt gegen Migrant*innen, Muslim*innen und Geflüchtete fordern von uns allen ein verantwortliches Sprechen. Denn Worten können, wie Sie richtig bemerken, Taten folgen. Mehr noch, so sind wir überzeugt: Worte, insbesondere die von öffentlichen Personen an ein breites Publikum gerichtet, sind Taten.

In diesem Sinne empfinden wir es als ein extrem verantwortungsloses sprachliches Handeln, wenn Sie im Zusammenhang mit dem auch von Ihnen konstatierten zunehmenden Antisemitismus in Deutschland behaupten, dass es sich in erster Linie um einen „importierten Antisemitismus“, handle, den (von Ihnen vage in den Raum gestellten) Antisemitismus, von „Menschen, die damit in ihren Heimatländern aufgewachsen sind“. So suggestiv verallgemeinernd und diffamierend über diejenigen zu sprechen, die ohnehin im Fokus rassistischer Hetze sind, ist in unseren Augen nicht mehr fern von geistiger Brandstiftung.

Herr Innensenator Geisel – wir jüdischen, palästinensischen, muslimischen, migrantischen, geflüchteten Berliner*innen sowie unsere Unterstützer*innen werden durch Ihre gewissenlose Instrumentalisierung von Antisemitismus in die konkrete Gefahr von Diffamierung und Gewalt gebracht.

Und schlimmer noch:

Ihre Aussage ist kontraproduktiv, wenn es darum geht, einem tatsächlich gehegten, antisemitischen Ressentiment entgegenzuwirken. Das aber wäre eigentlich Ihre Aufgabe wie die von uns allen.

Stattdessen scheint es Ihnen jedoch darum zu gehen, nachdem Sie das Übel zunächst bei denen, die von außerhalb kommen, abgeladen haben, „einen in der [bio-] deutschen Gesellschaft verwurzelten Antisemitismus” zum geringeren Problem zu stilisieren – nur um zum nächsten gedanklichen Salto Mortale anzusetzen:

Dieser „marginale“ hauseigene Antisemitismus der geläuterten Deutschen sei mit der BDS-Kampagne nun doch „in der Mitte der Gesellschaft angekommen“, demnach nicht mehr nur marginal; denn diese Kampagne stelle das Existenzrecht Israels in Frage. Sie bezichtigen mit Ihrer Aussage nicht nur die Regierungen Irlands, Schwedens und der Niederlande, die die BDS-Kampagne als von der Meinungsfreiheit geschützt sehen, des Antisemitismus.  Sie machen auch nicht halt vor renommierten Expert*innen wie Wolfgang Benz, der in einem Interview in der Südwestpresse vom 09.03.2019 folgendes sagte:

„…Wer diese Bewegung als antisemitisch abstempelt, hat primär ein politisches Interesse – und kein Interesse an Aufklärung und Frieden. Wer die Boykott-Bewegung, der ich persönlich ganz ferne stehe, im Kern als antisemitisch bezeichnet, hat schon Partei ergriffen und sich fanatisieren lassen – und ist zu keinem unbefangenen Urteil mehr fähig…“ (https://www.swp.de/politik/inland/interview-mit-antisemitismusforscher-wolfgang-benz-30241771.html).

Professor Amos Goldberg, außerordentlicher Professor für Holocaustgeschichte an der Fakultät für Jüdische Geschichte und Judentum der Gegenwart an der Hebräischen Universität in Jerusalem äußert sich in einem Interview  im Magazin des Goethe Instituts zum anti-BDS-Beschluss des Deutschen Bundestags vom 17.05.2019 folgendermaßen

“…Der Bundestag hat dem Antrag, den BDS als antisemitisch zu bewerten, zugestimmt. Damit ruft er im Grunde zur Boykottierung der BDS-Bewegung in der deutschen Öffentlichkeit auf. Meine Kollegen und ich halten dies für einen schwerwiegenden Fehler…”

und führt weiter aus:

“…Der Beschluss des deutschen Bundestags ist ein schlimmer Präzedenzfall. Ein Staat (Deutschland) hat aus fragwürdigen Beweggründen in die öffentliche Debatte eingegriffen und Meinungsfreiheit und Proteste beschränkt. Es wird nicht mehr lange dauern, bis jede scharfe Kritik an Israel als antisemitisch bezeichnet wird und damit ihre Legitimität verliert. Damit begehen liberale Demokratien einen schwerwiegenden Verrat an Menschenrechten und Meinungsfreiheit. Diesen Werten sollte sich gerade Deutschland verpflichtet fühlen…” (https://www.goethe.de/ins/il/de/kul/mag/21581473.html).

In seinem Interview verweist Professor Goldberg auch auf einen von ihm mitunterzeichneten Aufruf von 240 jüdischen und israelischen Wissenschaftler*innen vom 03.06.2019, in dem es u.a. heißt:

“…Darüber hinaus entsprechen die drei Hauptziele des BDS – die Beendigung der Besatzung, die volle Gleichberechtigung der arabischen Bürger Israels und das Recht auf Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge – internationalem Recht, auch wenn das dritte Ziel zweifellos diskussionswürdig ist. Wir sind entsetzt darüber, dass Forderungen nach Gleichberechtigung und der Einhaltung des Völkerrechts als antisemitisch angesehen werden.

Wir kommen zu dem Schluss, dass der Anstieg des Antisemitismus eindeutig nicht die Sorge ist, die den vom Bundestag beschlossenen Antrag inspiriert hat. Im Gegenteil, dieser Antrag ist von den politischen Interessen und der Politik der am stärksten rechtsgerichteten Regierung Israels in der Geschichte des Landes angetrieben…” (https://de.scribd.com/document/412474418/Aufruf-von-240-Judischen-und-Israelischen-Wissenschaftlern-an-die-Bundesregierung-zu-BDS-und-Antisemitismus).

Bereits im Mai 2019 forderten jüdische und israelische Wissenschaftler*innen die deutschen Parteien auf,  BDS nicht mit Antisemitismus gleichzusetzen:

“…Die Gleichsetzung von BDS und Antisemitismus wird von der am weitesten rechts stehenden Regierung in der Geschichte Israels gefördert. Es ist Teil der ständigen Bemühungen, jeden Diskurs über palästinensische Rechte und jede internationale Solidarität mit den Palästinensern, die unter militärischer Besatzung und schwerer Diskriminierung leiden, zu delegitimieren.

Wir fordern Sie auf, Antisemitismus und alle Formen von Rassismus zu bekämpfen, ohne diese  böswilligen Bemühungen zu unterstützen. Wir bitten Sie, die freie Meinungsäußerung und demokratische Räume in Deutschland zu schützen, anstatt diejenigen zu isolieren und zum Schweigen zu bringen, die ihre politischen Überzeugungen gewaltfrei zum Ausdruck bringen…” (https://de.scribd.com/document/410140639/Aufruf-von-Judischen-und-Israelischen-Wissenschaftler-an-Deutsche-Parteien-zu-BDS).

Sie scheinen das zu ignorieren – so, wie Sie als Innenminister Berlins schlicht das ignorieren, worüber man sich auf europäischer Ebene längst einig ist, nämlich dass BDS vom Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt ist. Anlässlich einer EU-Parlamentsfrage äußerte sich die Hohe Vertreterin der EU für Aussen- und Sicherheitspolitik Mogherini im Namen der EU-Kommission:

„The EU firmly condemns threats and violence against human rights defenders under all circumstances. The EU regularly raises questions related to the protection of human rights and human rights defenders in its dialogue with the Israeli authorities, and calls on both Israel and the Palestinians to refrain from provocation and to resolutely fight incitement and hate speech.

The EU stands firm in protecting freedom of expression and freedom of association in line with the Charter of Fundamental Rights of the European Union, which is applicable on EU Member States’ territory, including with regard to BDS actions carried out on this territory. Freedom of expression, as underlined by the case law of the European Court of Human Rights, is also applicable to information or ideas ‘that offend, shock or disturb the State or any sector of the population.“ (http://www.europarl.europa.eu/doceo/document/E-8-2016-005122-ASW_EN.html?redirect#def1)

Stattdessen bemühen Sie den Verfassungsschutz und unterstellen der BDS-Kampagne, dass sie das Existenzrecht Israels in Frage stelle. Wir bemühen uns, Ihrer Argumentation zu folgen: Eine zivilgesellschaftliche Kampagne für die Anerkennung und Umsetzung internationalen Rechts durch einen Staat stellt demnach für Sie das Recht dieses Staates zu existieren in Frage? – Gehen Sie also davon aus, dass ein Staat durch die Anerkennung und Umsetzung internationalen Rechts existenziell in Frage gestellt wird? 

Zugegeben, wir vermögen dem nicht zu folgen und sind zunehmend verwirrt, weil es doch eben noch um Antisemitismus ging, eine Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, das Ressentiment gegen die (imaginierte) Menschengruppe der Juden. Richtet sich also in Ihren Augen eine Kampagne, die wesentliche Aspekte der Politik eines Staates kritisiert, in rassistischer Manier gegen die Bürger*innen dieses Staates oder einen Teil von ihnen? Ist etwa die Forderung an die USA, sich an Internationales Recht zu halten, demnach für Sie anti-amerikanischer Rassismus, eine solche Forderung an Russland Ressentiment gegenüber „den Russen“?

Wir geben es auf.

Ein in unseren Augen wichtiger und richtiger Satz steht inmitten all Ihrer Aussagen der Geschwätzigkeit in diesem Interview: „Wenn jemand herabgewürdigt wird, weil er Jude ist, ist das ein Angriff auf die Menschenwürde, und damit gleich auf Artikel 1 unseres Grundgesetzes.“ Dieser Artikel 1 des Grundgesetzes von der Würde des Menschen, die unantastbar ist, wird durch Ihre verantwortungslosen  Ausführungen, verhöhnt.

Es fragt sich, vor wem die Verfassung geschützt werden muss.

Wir fragen uns darüber hinaus, ob Sie den Anforderungen für den verantwortungsvollen Posten eines Innensenators in Berlin gerecht werden.

Unterzeichnet von

Palästina Spricht

Jewish Antifa Berlin

BDS Berlin

Palestinian Panthers

Berlin Against Pinkwashing

Queers against Racism and Colonialism

Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost e.V.